Helga Pankratz zu meinem Buch Côte d’Azur
Beharrlichkeit und Leidenschaft müssen wir ständig erneuern, um es durch die dunkle Stadt der Väter zu schaffen ..
Côte d’Azur ist eine Liebeserklärung an die intensive Sinnlichkeit zweier Liebhaberinnen, an jene begnadete Verfassung, in der zwei Menschen physisch und psychisch vollkommen und intensiv glücklich an- und miteinander sind.
Wir wollen jeden Tag Champagner trinken lautet ein Vorsatz der zwei Liebenden zu Beginn ihrer zweiwöchigen Reise: das Leben, die Liebe, Natur und Kultur ringsum, sich selbst und aneinander zu genießen, sich leichten Herzens zu amüsieren auf eine Weise, wie dies im Alltag zu Hause nicht möglich ist. Der Aufenthalt in der attraktiven Fremde, in diesem Land jenseits der heimischen Grenzen, im Urlaub, dieser Zeit außerhalb der Zeit, bietet ihnen eine einmalige Chance. Wir wollen jeden Tag Champagner trinken ist ein Versprechen, eine Hoffnung, eine Verheißung, zu deren Erfüllung sie beide ihr Bestes tun, von Anfang an bis zu den letzten zwei Minuten auf dem Flughafen von Nizza vor dem Start der Maschine zurück Richtung Alltagsleben.
Bemerkenswert problemlos nehmen sich diese zwei Frauen ihr Recht auf unbeschränkte sinnliche Freude heraus: unverhohlen, unverstohlen, un-heimlich „out of the closet“ vor den Augen der ganzen Welt benehmen sie sich sichtbar und offensichtlich als Verliebte. Kein einziges direkt negatives Feedback einer neidigen oder verunsicherten heterosexuellen Umwelt trübt die Freude der Liebenden.
Utopistisches, realitätsfremdes Wunschdenken? Eine beschönigende Fiktion von der diskriminierungsfreien Welt? – Nein.
Vielmehr ist es Karin Rick gelungen, diese ganz besonder Souveränität, Unantastbarkeit und traumwandlerische Sicherheit zu beschreiben, die Liebespaare – gerade solche, die der Gesellschaft „auffällig“ erscheinen mögen – in diesem besonderen Glücks- und Lustzustand immunisieren gegen jegliche Anfechtung von Furcht oder Fügsamkeit: das Grundgefühl großzügiger Erhabenheit über den kleinlichen Rest der Welt, eine gemeinsame Stärke, eine Woge des Glücks, die unangreifbar macht.
Kontakte zur heterosexuellen Umwelt werden keineswegs ausgeblendet. Im Hospiz, wo die beiden logieren, pflegen sie mit den meisten anderen Gästen herzlichen Umgang. Die Abneigung zwischen ihnen beiden und dem einzigen anderen Paar, mit dem sie dort in Kontakt kommen, bloß als Beschreibung des Unbehagens zwischen heterosexueller und lesbischer Beziehung zu verstehen, wäre wohl zu einfach! Und doch schwingt möglicherweise ein solches Unbehagen mit.
Auf dem Schiff, wo die Erzählerin küssend und streichelnd auf dem Schoß der Geliebten sitzt, schwenkt ihre Aufmerksamkeit hin und her zwischen Familien mit Kindern in unmittelbarer Nähe und der starken körperlichen Anziehung, die die Geliebte auf sie ausübt. Selbstbeobachtend nennt sie es explizit schamlos, dass sie beide sich zärtlich-verliebt benehmen.
Ein andermal, im Schatten einer Pinie_ intensiver sexueller Genuss, von Lustschreien begleitet; am helllichten Tag, an einem bezaubernd schönen, frei einsehbaren Ort, direkt neben einem Spazierweg. Die unvermeidlich vorbeikommende fremde Familie, Kinder voran, nähert sich ihnen während Felis Höhepunkt und geht an ihnen vorbei, während Feli erst allmählich aus dem Zustand von Hingabe und Verzückung zurückkehrt. Die Erzählerin behütet ihre in dieser Situation äußerst ausgelieferte Geliebte souverän. Es sind die anderen, die den Blick senken!
Rick erzählt von dieser Reise in einer sehr einfachen, sparsamen Sprache: minimalistisch unpathetisch und unblumig; mit kargem Vokabular. Sie pflegt durchgehend eine sehr unmittelbare, direkte Art und Weise des Bezeichnens und Beschreibens, die ich am liebsten einen radikalen „Es-ist-Stil“ nennen möchte.
Sparsamst sind auch die Personen charakterisiert. Sie sind allesamt Personen ohne viel Hintergrundgeschichte und biographischen Ballast. Sparsam wird das Aussehen beschrieben. Wir erfahren zur Charakterisierung der Geliebten nicht sehr viel mehr als die Farbe ihrer Augen, wie sie in der dritten Person von sich und ihren Bedürfnissen zu sprechen pflegt, dass sie von ihnen beiden jene ist, die das Leihauto lenkt, und dass sie sich gelegentlich schminkt. Wir werden nie erfahren, ob sie sonderlich groß oder klein, lang- oder kurzhaarig ist.
Damit ist es der Autorin nicht nur geglückt, ein Heraufbeschwören von Klischee- bzw. Anti-Klischeebildern zu vermeiden, sie hat auch vermieden, Felicitas – das Glück – durch detaillierte Beschreibung ihrer körperlichen Erscheinung dem prüfenden Blick der fremden Leserin auszusetzen, sie zum Objekt zu machen und damit zu banalisieren, zu trivialisieren, zerstückelnd in Bestandteile zu zerlegen. Die Geliebte, das Glück, ist vor allem beschrieben durch Berührungen, Empfindungen, durch das, was sie sagt, was sie tut, durch ihre intensiv gefühlte Gegenwart. Das Sinnesorgan, mit dem die Geliebte am besten und eindrücklichsten wahrgenommen wird, ist weniger das Auge, sondern vielmehr „der Bauch“, die Haut, der ganze Körper. Sie wird durch und durch und mit allen Sinnen gefühlt. Sie wird „geschaut“, nicht bloß angesehen; und sie bleibt dabei unantastbar, in ihrer größten Berührbarkeit unantastbar.
Die Rückkehr in den Alltag ist für die Liebenden wie eine Vertreibung aus dem Paradies. Bedauernd kalkuliert die Erzählerin zum Abschied durch, ob sie das Glück mit diesen zwei Wochen Ausnahmezustand zu geizig bemessen haben, will nicht „zurück“, will nirgendwo weniger hin als „heim“.
Es bleibt, auch wenn der Urlaub endet, mit der Erzählung dieser Liebesgeschichte ein Raum aufgetan, eine Erinnerungsspur gelegt: von Nizza bis Arles und retour nach Wien. Wo Raum ist/ da sind Spuren. (…) Kaum sichtbar sind diese Spuren, vergraben, verborgen – wie wir oft sind eine vor der anderen. Aber Spuren nehmen immer mehr Raum ein in unserem Leben. Sie erscheinen wieder wie wir, tauchen aus unserer Kindheit auf, wo wir zu lernen gezwungen wurden, die weibliche Rolle vor Eltern und Freunden in vulgär demütigender Weise zur Schau zu stellen. Beharrlichkeit und Leidenschaft müssen wir ständig erneuern, um es durch die dunkle Stadt der Väter zu schaffen, müssen immer auf einem Seil unser Gleichgewicht halten/ und auf allen Seiten der Abgrund. Denn wir arbeiten ohne Netze.
Helga Pankratz, Nachwort zu „Côte d’Azur, zwei Frauen – eine Liebesgeschichte“