Kann Ilja Trojanow auf feministische Patriarchatskritik verzichten?

‚Tausend und ein Morgen‘ – Utopie, Zeitreise oder doch Coming of Age Roman

„Erzählen ist nichts anderes als dem Tod die Zunge zu zeigen“, sagt der Pirat Charqui, eine der Schlüsselfiguren in Ilja Trojanows neuem Roman. Er spinnt Seemannsgarn auf einem soeben gekaperten Schiff, während der Rum in Strömen fließt. Er hat so unrecht nicht.

Angesichts der Klimakatastrophe, der Zerstörung der Biodiversität, der Verbreitung von Pandemien, des Erstarkens rechter Parteien und autokratischer Tendenzen, deren Sinn die Schwächung der Demokratie ist, mag gerade heute Erzählen die Rettung vor dem Abgrund sein. Ist es doch Literatur, die neue, noch undenkbare Welten entstehen lassen kann, als Hoffnung auf ein besseres Später. Eine heile, utopische Gesellschaft in sehr ferner Zukunft entwirft Ilja Trojanow, eine Gesellschaft jenseits des „Kapitalozäns“, in dem die Gier nach Geld Anhäufung von unendlichem Reichtum, jedoch auch Sklaverei Tortur und Zerstörung mit sich brachte. Da die utopische Gemeinschaft so perfekt ist, und, wie im Paradies, alle alles haben, die Gruppe einander nur Gutes will und Verbrechen nicht existieren, fassen ein paar junge Neugierige den Entschluss, in die Vergangenheit zu reisen, um die Geschichte rückwirkend zu verändern, zum Besseren zu wenden. Sie möchten die Weichen anders stellen, von Millionen Möglichkeiten und Kausalverzweigungen die beste auf Schiene bringen, um im „Damalsdort“ Leid, Zerstörung und Unterdrückung früher zu beenden. Der jungen Heldin Cya, Chronautin, und ihren Mitstreiter:innen präsentiert sich die Vergangenheit als dystopisch, und nicht die Gegenwart. Es ist die Vergangenheit, die vom Makel befreit gehört und nicht das Jetzt.

Was als Gedankenexperiment des Autors spannend ist, verdreht es doch innerpsychische Prozesse, die die eigene Vergangenheit beschönigen und mit der rosaroten Brille der Verklärung sehen, ist auch als Gesellschaftsanalyse zwingend.

Der Autor lässt Cyas Zeitreise nicht von ungefähr in der Zeit der Piraten beginnen, mit der Begründung, dass diese nicht unwesentlich zur Bereicherung der Kolonialherrschaft beitrugen. „Cya will zu den mannigfaltigen Inseln, in der Epoche, als Meeresströmungen zu Kapitalströmen wurden.“ „Aus der Sicht des Goldes waren die Inseln nicht peripher, sondern wie der Maschinenraum des beginnenden Kapitalismus.“

Ein Bündnis von Sklaven und Piraten soll die Verwirklichung der kapitalistischen Utopie und der weltumspannenden Kolonialherrschaft verhindern. Cya und ihre anderen Chronautin (die Mehrzahlendungen im Roman lauten auf -in) wirken darauf hin.

Dass dies nicht gelingen kann, versteht sich von selbst. Verrat bringt alles zum Scheitern und nur noch mehr Blutvergießen. Die Gesellschaft verfügt über Mechanismen, die die Fliehkräfte aus dem Gefüge hinaus verhindern, zu große Veränderungen werden von den Akteuren selbst boykottiert.

Der zweite Zeitreisekomplex widmet sich der Verhinderung eines Aufstandes in Indien. Der Fund einer ikonischen Buddha Statue, die gleichzeitig auch als Inkarnation Mohammeds interpretierbar ist, könnte dazu führen, dass beide Weltreligionen ineinander verschmelzen und es keine Glaubenskriege mehr gibt. Ein paar strategische Fehlentscheidungen der Polizeikommandanten später passiert das Gegenteil. Eine Metzelei ungeahnten Ausmaßes um den Besitz der Statue herum entsteht. Cya kann weitere Zusammenstöße nur verhindern, indem sie die Statue im Meer versenkt und damit die Hoffnung auf eine Versöhnung der beiden Weltreligionen. Der dritte Zeitreiseversuch, die Ermordung Lenins zu verhindern und die Revolution zu retten, scheitert nach drei Anläufen kläglich. Damit nimmt die uns bekannte Geschichte ihren unerbittlichen Lauf Richtung Stalinismus.

Heilsbringer aus der fernen Zukunft oder von Gott gesandt scheitern kläglich am Menschsein. Auch die neue Religion der Nächstenliebe für Habenichtse einer ‚göttlichen‘ Lichtgestalt wie Jesus Christus führte bekanntlich zu einer Kirche, die nichts besseres hervorbrachte als maßlose Gier nach Gold und Macht, Ausrottung ganzer Kulturen, Kreuzzüge, Hexenverbrennungen und Judenverfolgungen.

Trojanows außergewöhnlich schöne, poetische Sprache entwirft ein düsteres Sittenbild unserer Gesellschaft, aus der es kein Entrinnen gibt. Wobei das Paradies, aus dem heraus gehandelt wird, eigentümlich verschwommen, in seinen Strukturen unklar ist. Es ist eben doch kaum ausdenkbar, wie eine ideale Gesellschaft aussehen soll. Auch die Feinmotorik der Beziehungen zwischen den Protagonist:innen interessiert den Autor nicht, die aufkeimende Liebe zwischen Cya und Domru wird nur gestreift, ihr sexuelles Erleben ebenfalls, die erste Liebesnacht kursorisch beschrieben: „Von Freude und Riesling betört war sie neugierig. Eher gierig. Süß das Erlebnis, bittersüß der Nachgeschmack. Sie möchte Distanz wahren, Domru missachtet diesen Wunsch, ihr Begehren ebenfalls.“

Das enttäuscht. Nach all den genauen Beschreibungen von Schlachten, Metzeleien und Leichenbergen der dystopischen, unveränderbaren Vergangenheit hätte ich gern gewusst, wie sich Liebe und Sex in einer neuen, perfekten, gleichberechtigen Welt anfühlen. Mir fehlt ebenfalls der Fokus auf die Verknüpfung von Patriarchat und Kapitalismus. Darüber ist zuviel Forschung betrieben worden, als dass man diese im Entwurf einer perfekten Welt außer acht lassen sollte. Das kann der Grund sein, warum ich, die Lesende, dem Autor die ideale, bessere Welt nicht ganz abnehmen kann und sie für mich strukturlos bleibt.

Nach drei Zeitreisen, in denen die Veränderung von historischen Schlüsselmomenten gescheitert ist, gibt Cya auf. Aber richtig wohl fühlt sie sich im Paradies auch nicht mehr. Sie ist zu sehr infiziert vom Virus der grausamen Vergangenheit und schneller gealtert als die anderen, die sich nicht auf diese Abenteuer eingelassen haben, oder früher ausgestiegen sind. Sie ist dem schnelleren Alterungsprozess derer unterworfen, die sich zu eng und zu lang in das Zerstörung bringende Getriebe von Machtmechanismen einbringen. Sie werden aufgerieben von den Widerständen und sind bald verbraucht.

Utopie des Jetzt versus Dystopie des „Damalsdort“, so kann das Buch verstanden werden. Gleichzeitig könnte man den Roman auch als Coming of Age Story lesen. Die heile Welt ist das Elternhaus, aus dem Cya schlüpft, um ihre ersten Schritte in die Realität zu machen. Das Durchschneiden der Nabelschnur wird hier als Zeitreise in die Vergangenheit maskiert. Und doch ähnelt die Konfrontation mit dem Machtgefüge des ‚Damalsdort‘ der Konfrontation eine erwachsen werdenden Frau mit der Realität unserer Gesellschaft, die aus Grausamkeit, Sadismus, Zerstörungswut, Habgier und Uneinsichtigkeit in bessere Handlungsmöglichkeiten besteht. Dass die nicht so leicht veränderbar ist, wenn überhaupt, erlebt jede und jeder im Zuge des Erwachsenwerdens. Schmerzhaft wird dies angesichts der Klimakrise der „Letzten Generation“ bewusst, oder auch den „Fridays for Future“ Demonstrierenden. Erderwärmung wird bagatellisiert, die Politik reagiert mit Brutalität auf ihre Aktionen.  Das ist vielleicht der wirklich dystopische Zug des Romans.

Jedes Aufbegehren gegen das patriarchal-kapitalistische Gefüge ist sinnlos. Kassandrarufe verhallen ungehört. Rechte, autokratische Strömungen versprechen den Ausweg aus drohenden Katastrophen, nicht steuerbaren Migrationsbewegungen, Kriegsgefahr an unseren Grenzen, Kaufkraftverlust und Armutsfalle mit ihrer Vision eines „starken Mannes“, der bereits mehr als vierzig Prozent der Bevölkerung gewogen sind. Das sollte uns alle in Alarmbereitschaft versetzen.

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