Glück lebte in einem verwunschenen Garten am Rande der großen Stadt. Dort waren nur die Vögel, das Zischeln und Knistern der Blätter im Wind, das Tropfen der undichten Dachrinne und das Getrappel der Siebenschläfer im Gebälk zu hören. In der Nacht ratterten die fernen Züge ans Ende der Welt lauter als sonst, aber das erfreute Glück, im Geiste winkte sie ihnen nach. Glücks Nachbarn waren als vorbeihuschende Schatten-Licht-Reflexe zwischen den dichten Hecken zu sehen, der Tannenwald schien sich ins Unendliche zu dehnen.
Wenn Glück sang, wurde alles, was vom Klang ihrer Stimme berührt wurde, zu purem Gold. Nicht das Gold der Bankschließfächer, sondern jenes, das wie ein Glanz über den Dingen oder in einem Lächeln liegt.
Eines Tages wurde die reiche Königin auf Glück aufmerksam. Sie fand sie so begabt und frei und lud sie in ihre Penthouse-Burg ein, wo sie sie bezauberte. Glück verliebte sich. Die Königin war ja so schön, sie trug ein rotes Samtwams und hatte funkelnde Augen. Beim Anblick ihrer Brüste schmolz Glück dahin und wollte diese ununterbrochen streicheln, küssen, erregen. Sie wurden ein Paar und alles hätte gut ausgehen können.
Doch die Liebesstunden machten Glück rastlos und unzufrieden. Sie ertrug weder die Hofschranzen noch das falsch spielende Hoforchester, die dressierten Tiere in übelriechenden Ställen, die Mauern aus schlecht gearbeitetem Sichtbeton, die Türen aus kitschigem Aluminium. Ihre Stimme gab den Dingen keinen Glanz mehr, sondern nur mehr mattes, schimmeliges Rostrot. Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus und verließ die reiche Königin. Doch als sie nach Hause kam, war der Tannenwald gerodet worden, Kinder kreischten links und rechts in käfigartigen Hüpfburgen, Nachbarn sägten und klopften den ganzen Tag um immer größere, immer sterilere Wohnungetüme zu schaffen. Glück weinte bitterlich, bis sie sich daran erinnerte, dass es ja noch die Züge ans Ende der Welt gab, die weiterhin verlässlich durch die Nacht ratterten.
Karin Rick, Glück- ein Märchen, Kurzgeschichte in: Glück und Schwein, Edition Das fröhliche Wohnzimmer, 2012