Am 24. März 2018 fand die jüngste Night of Shame von Hille Beseler und Gisela Salcher, mit den EmotionswissenschaftlerInnen Dr. Brigitte Kieselstein und Prof. Dr. Tille Heseler als Performance in „Der Schönen“ in Wien statt. Special Guest war die Schriftstellerin Karin Rick, hier im Gespräch mit Hille Beseler.
Hille Beseler: Karin Rick, du warst unser Special Guest in der Performance Night of Shame, in der das Publikum mit den eigenen Schamgefühlen konfrontiert wurde. Die Emotionstherapeutinnen Dr. Kieselstein und Prof. Heseler nahmen an den ZuschauerInnen während unserer Performance, aber auch während deiner Lesung mittel eigens entwickelter Geräte Schammessungen vor. Ziel des Abends war es, bei den ZuschauerInnen ein stärkeres Gefühl für ihre Schamgrenzen zu entwickeln und ihnen auch die Möglichkeit zu geben, sich zu ‚ent‘-schämen. Welche Bedeutung hat Scham in deinen Texten?
Karin Rick: In der Sexualität sind Schamgefühle für mich eng mit erotischer Erregung verbunden. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass das Wahrnehmen von Schamgefühlen und der Wunsch sie zu überwinden das Vorspiel eines jeden sexuellen Aktes ist. Mein Ansatz: Scham ist luststeigernd.
Hille Beseler: Du selbst sprichst dabei auch von Angst-Lust. Hast du aus diesem Grund den Text Ladies in Leather – Hot Love für den Abend ausgewählt? Leadies in Leather erzählt ja die Geschichte einer Frau, die sich sexy kleidet und in enger Lederjacke auf der bloßen Haut, nackt, nur mit Stay-ups unter dem Minirock durch die Straßen der Stadt geht, um eine andere Frau, das Objekt ihrer Begierde vom Bahnhof abzuholen. Für mich war der Text in seiner Direktheit eigentlich schon einer ,nach der Scham‘, im ‚scham-losen‘ Bereich.
Karin Rick: ‚Nach der Scham‘ trifft vielleicht auf den Text selbst, auf seine Sprache zu, die sich über alle Schamgrenzen hinwegsetzt, aber nicht auf die Hauptperson und ihren inneren Monolog, ihre Erwartungshaltung.
Hille Beseler: Wieso? Wo ist in einer solchen Situation die Power of Shame für dich?
Karin Rick: Während sie fast nackt durch die Straßen geht und dies in ihren Gedanken ständig reflektiert, bringt sie Scham als Erregungssteigerung ins Spiel, das geht aber nur, weil sie währenddessen die Überwindung der Scham dauernd mitdenkt.
Hille Beseler: Aber sie hat doch Angst, durch die Stadt zu gehen und in ihrer Nacktheit von beliebigen Passanten entlarvt, aufgedeckt zu werden, ja, dass Ihr Gewalt angetan, sie ‚in ein dunkles Haustür gezerrt wird‘, weil sie nackt ist, also quasi ihrer Schamlosigkeit die Strafe, die Gewalt auf dem Fuß folgt.
Karin Rick: Das ist eben die erotisch aufgeladene Angst-Lust dieser Frau. Außerdem schämt sie sich, weil sie sich selbst so offensiv, exhibitionistisch für die andere Frau gekleidet hat. Die Gedanken daran, dass die andere das sicher bemerkt und sowieso auch merken soll, werden von Angst-Lust begleitet. Sie steht der anderen im Aufzug und dann im Zimmer gegenüber und ihre Fantasie spielt ihr ununterbrochen den Moment vor, wo die andere endlich ihr nacktes Geschlecht entdeckt, sobald sie ihr quasi das letzte Feigenblatt, den Minirock wegzieht – also kurz vor dem Sex.
Hille Beseler: Das heißt also, sie spielt mit der Scham/Schamlosigkeit, indem sie die ganze Zeit über ihr Geschlecht entblößt durch die Stadt trägt.
Karin Rick: Genau. Ihr Geschlecht, dessen Name im Deutschen sogar Scham heißt, wird von ihr durch diesen Akt der Bloßstellung „ent“-schämt. Sie entlarvt und überwindet das Tabu der Bloßstellung des weiblichen Geschlechts und transformiert es zu ihrer eigenen Lust.
Hille Beseler: Denkst du, dass Scham in Verbindung mit Erotik bei Frauen mehr und intensiver auftaucht als bei Männern?
Karin Rick: Ja. Schamgefühle wurden Frauen über Jahrhunderte anerzogen. Das Schamgefühl ist eine der vielen, perfekt funktionierenden Disziplinierungsmaßnahmen, denen Frauen unterworfen werden und diente (dient in den meisten Kulturen noch) der Geburtenkontrolle. Es musste sichergestellt werden, dass die Frau nicht fremd ging, sich kein fremder Samen einschleicht und die männliche Erbfolge gewahrt bleibt. Wie es so schön heißt: mater semper certa est pater nunquam, die Mutter ist immer sicher die Mutter, aber für den Vater gibt es kein mit der Geburt des Kindes gleichwertiges äußeres Beweiszeichen seiner Vaterschaft. Weibliche Sexualität wurde daher entmündigt, unter Kuratell gestellt, mit Schamgefühlen diszipliniert: Weibliche Lust wurde zuerst verteufelt und dann überhaupt als inexistent propagiert. Das ganze Konstrukt, dass die Frau die Trägerin der Familienehre ist und keine Schande über die Familie bringen darf entstand daraus.
Hille Beseler: Um sich zu befreien sollten Frauen lernen, diese anerzogenen Schamgefühle zu überwinden, während Männer erst einmal einen Zugang zu den ihren finden sollten. Die sind ja verschüttet. Und da denke ich gleich an die aktuelle MeToo Debatte, in der Scham, Schande und Missbrauch wichtige Themen waren.
Karin Rick: Die MeToo Debatte hat Missbrauch von Frauen durch vorgesetzte Männer in beruflichen Abhängigkeitsverhältnissen ans Licht gebracht und endlich die missbrauchenden Männer „beschämt“, endlich die „Schamlosigkeit“ der Missbraucher und Belästiger angeprangert. Bei Missbrauch rechnet der, der das Abhängigkeitsverhältnis ausnützt damit, dass das Opfer aus Schamgefühl, aus Angst vor öffentlicher Schande, den Weg an die Öffentlichkeit scheut. Jetzt befinden sich Scham und Schande endlich auf Seiten der Täter und nicht mehr auf Seiten der Opfer.
Hille Beseler: Wäre denn die Sensibilisierung auf das Thema Scham, beziehungsweise Schamgrenzen, nicht ein Weg zu einem gleichberechtigten, würdevollen Miteinander?
Karin Rick: Ja klar. Sich gegenseitig über die eigenen Schamgrenzen auszutauschen wäre ein guter Ansatz.
Hille Beseler: Karin, du warst während deiner Lesung aus Hot Love auch an unsere Geräte angeschlossen und konntest selbst nachvollziehen, wie sich dein Schampegel veränderte. Es war ja nicht deine erste Lesung dieses Textes. Wie hast du dich gefühlt?
Karin Rick: Ich habe den Text schon so oft vorgetragen und merke jedes Mal, dass ich beim Vorlesen an meine eigenen Schamgrenzen stoße und mich überwinden muss, weiterzulesen. Mein Schampegel steigt also, was sehr schön an den Geräten zu sehen war, der Zeiger schlug ganz gehörig aus. Ich kann nicht umhin, das Publikum immer mitzudenken, wie sehr diese Geschichte an deren eigene Schamgrenzen kratzt. Manchmal komme ich mir mindestens genauso entblößt vor, wie die Frau in meinem Text.
Hille Beseler: Das ist ja nun sehr spannend. Das heißt, du wirst von der Angst-Lust deiner Texte erfasst.
Karin Rick (lacht): Ja, so kann man das sagen.
Hille Beseler: Am Wochenende davor haben Gisela und ich uns überlegt, wie wir diese Night of Shame mit Dir als Special Guest anlegen wollen. Ladies in Leather kurz nach dem Einlass sollte die ZuschauerInnen ‚ent‘-stören, und sensibilisierte die Menschen schon einmal für ihre Körperreaktionen beim Zuhören, wie zum Beispiel rot werden, ‚heiß‘ werden, verlegen oder kritisch oder sich ganz besonders cool geben…
Karin Rick: …sich über den Text einmal eine geballte Ladung „Scham/Schamlosigkeit“ holen.
Hille Beseler: Richtig. Und wie das nachher in Gesprächen herauszuhören war, fand bei manchen auch genau das statt. Dein zweiter Text aus deinem Roman Venuswelle, befindet sich eher mitten in der Scham. Steve, der Protagonist, der sich für seine Partnerin erstmalig als Frau kleidet, um mit ihr Sex zu haben, ist verletzlich, ängstlich, verwundbar und traut sich trotzdem, diesen Traum zu verwirklichen.
Karin Rick: Ja, auch hier wirkt ‚the power of shame‘!
Hille Beseler: Diesen verletzlicheren Text von Steve fanden wir dann für das Ende unserer Performance stimmig.
Karin Rick: Für mich hat das auch sehr gut gepasst. Der Text hat den Kreis geschlossen, der mit Ladies in Leather begann und mit Eurer schauspielerischen Darstellung, der Materialisierung von schaminduzierten Gefühlswelten fortgesetzt wurde.
Hille Beseler: Hinter der Scham versteckt sich die Würde. Wie zeigt sich das in Deinen Figuren?
Karin Rick: Ohne das Gefühl für die eigene Würde könnten meine Figuren gar nicht die ganze Skala von Angst, Angst-Lust, Scham, Schamüberwindungslust empfinden. Je größer das Gefühl für die eigene Würde, umso höher der Einsatz im Spiel der Selbstentäußerung im Sexuellen.
Hille Beseler: Eine letzte Frage noch. Sowohl in Ladies in Leather als auch in Venuswelle erzählst du in der Ich-Form. Wieso hast du dieses Verfahren gewählt?
Karin Rick: Gerade in dem sensiblen Bereich der Selbstentäußerung und Grenzüberschreitung im sexuellen Akt bringt die Ich-Erzählung enorm viel, weil sie ganz dicht an dem emotionalen Geschehen der Figuren dranbleibt und eine intime Welt schafft.
Hille Beseler: Karin, wir danken Dir herzlichst, dass du dich für uns und für die Night of Shame deinen Schamgefühlen gestellt hast. Du bist für uns ein bewundernswertes Beispiel für die Power of Shame, die unser Ansatz und Anliegen ist.